
Zwischen Verantwortungsgefühl und Freiheitsdrang
Studieren, schwimmen, arbeiten; und nebenbei noch für die kleine Schwester und die alkoholkranke Mutter sorgen. Im neuen Kinofilm „22 Bahnen“ vermischt sich schmerzhafter Tiefgang mit melancholischen Sommergefühlen. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Caroline Wahl stellt sich die Frage, ob die Verfilmung dem beliebten Kassenschlager das Wasser reichen kann.
Vom Debüt zum Bestseller zum Film
Caroline Wahl hat einen Schnellstart hingelegt. Vor zwei Jahren veröffentlichte die Autorin ihren Debütroman „22 Bahnen“, welcher mittlerweile schon über eine Million Mal verkauft wurde und mehrere Preise erhielt. Auch ihr zweiter Roman „Windstärke 17“, die Fortsetzung von „22 Bahnen“, war ein voller Erfolg. Die Bücher wurden geliebt, diskutiert und kritisiert. Vor allem in den sozialen Medien waren sie ein gängiges Gesprächsthema. Jetzt, fast zeitgleich mit der Veröffentlichung von Wahls neuestem Buch, „Die Assistentin“, ist bereits die Verfilmung von „22 Bahnen“ in den Kinos.
Der Roman sowie der Film „22 Bahnen“ handeln von Tilda und ihrer ca. 15 Jahre jüngeren Schwester Ida, die zusammen mit ihrer alkoholkranken Mutter in einer trostlosen Kleinstadt leben. Tilda arbeitet neben ihrem Mathematikstudium im Supermarkt und zieht gleichzeitig Ida groß, während ihre Mutter in der Sucht versinkt. Es ist Tilda, die die Familie über Wasser hält; weshalb sie manchmal abtauchen muss. Täglich zieht sie genau 22 Bahnen im Schwimmbad. Es sei denn, sie hat sich verzählt, dann gibt es fünf extra. Das schafft Kontrolle und Ruhe, die in ihrem Alltag sonst fehlen. Eigentlich wollte Tilda nach dem Studium bei Ida bleiben, doch dann bekommt sie ein Angebot für eine Promotionsstelle in Berlin. Sie ist zerrissen zwischen der Verantwortung und dem Wunsch nach Freiheit. Kann sie die schüchterne Ida mit der unberechenbaren Mutter allein lassen? Als dann plötzlich Viktor, der Bruder von Tildas verstorbenem Freund auftaucht, wird alles noch komplizierter. Eine Geschichte über Armut, Verantwortung und Kontrollverlust. Aber auch über Sommergefühle, Freiheit und Liebe. Vor allem der zwischen Geschwistern.


Bildhafte Emotionen, hörbare Gefühle
Mit Feinfühligkeit und Präzision wird Tildas Gefühlsleben in „22 Bahnen“ verbildlicht und vertont. Ihre Zerrissenheit, die Wut und die Schuldgefühle erhalten Ausdruck durch innere Monologe Tildas, welche durch ein Voice-Over der Schauspielerin hörbar werden. Sie spiegeln Tildas Gedanken und Emotionen in verschiedenen Momenten wider, wodurch die Protagonistin nahbar wirkt; echt. Ihre Handlungen sind so zu jeder Zeit nachvollziehbar.
Die Wucht von Tildas Gefühlen wird durch eine unruhige Kameraführung verstärkt. In besonders emotionalen und schweren Momenten – von denen es in „22 Bahnen“ reichliche gibt – ist das Bild instabil. Die Situation wirkt dadurch authentisch und vermittelt eine gewisse Dramatik.
In einer Szene des Films verschwindet Ida von zu Hause, weil sie sich mit ihrer Mutter gestritten hat. Als Tilda das mitbekommt, ist sie außer sich vor Wut und Hilflosigkeit. Sie brüllt ihre Mutter an und rennt los, um Ida zu suchen. Die Kameraführung betont die Panik, das Ausgeliefertsein und die Angst; unterstrichen durch Nahaufnahmen der Gesichter werden die Emotionen sichtbar und fesselnd.
Regie: Mia Maariel Meyer
Produktion: BerghausWöbke FIlm
Drehbuch: Elena Hell und Caroline Wahl
Verleih: Constantin Film
Cast: Luna Wedler (Tilda), Zoë Baier (Ida), Laura Tonke (Mutter), Jannis Niewöhner (Viktor)
Die Hälfte eines Ganzen
Nicht nur traurige Momente spiegelt der Film realistisch und mühelos wider. Auch die wundersame Verbindung zwischen Tilda und Ida wird den Zuschauenden durch kleine, ruhige Momente, die der Film zwischendurch entstehen lässt, nähergebracht. Sind sie zusammen, kommt Leichtigkeit auf; die Welt ist für einen kurzen Augenblick in Ordnung. Tilda bringt Ida zum Lachen, sie schwimmen bei Sommerregen, oder singen und tanzen auf den Pflastersteinen der Kleinstadt. Die Schauspielerinnen Luna Wedler als Tilda und Zoë Baier als Ida funktionieren wie in einer Symbiose. Kein Dialog wirkt gestellt oder unangenehm, sondern alles erscheint stimmig.
„Ida und ich, wir beide sind jeweils ein fester Teil. Die Hälfte von einem Ganzen.“ – Tilda
Das gilt nicht nur für die Schauspielerinnen von Tilda und Ida, sondern auch für den restlichen Cast. Viktor, gespielt von Jannis Niewöhner, strahlt eine angenehme Ruhe aus, die Tilda in ihrem sonst so stürmischen Leben guttut. Die beiden verbinden nicht viele Worte, aber dafür ein geteiltes Schicksal.
Der Film besticht durch seine ausdrucksstarken Hauptfiguren und kann vor allem jungen Menschen, die ähnliches erlebt haben oder ebenfalls mit den Aufgaben des Erwachsenwerdens kämpfen, authentische Identifikationsfiguren bieten.
Auch der Soundtrack der Verfilmung hätte passender nicht sein können: Durch den Monsun von Tokio Hotel. Er verstärkt das melancholische Gefühl, das beim Schauen immer wieder mitschwingt. Tilda, Ida und auch Viktor müssen durch den Monsun, um am Ende vielleicht die Sonne wieder sehen zu können. Eine Verfilmung, die in vielen Punkten überzeugt. Doch wird sie dem Original gerecht?


So nah – oder doch so fern?
Wird der Film als Teil eines Ganzen und nicht als Einzelstück betrachtet, lassen sich auch negative Kritikpunkte formulieren. Denn wer das Buch gelesen hat, könnte hier und da gelangweilt gewesen sein. Der Film steht so nah am Original, dass er ihm fast schon auf die Füße tritt. Die Dialoge sind teilweise identisch zum Buch und die Bilder, die im Kopf entstehen, gleichen häufig denen des Filmes. Das Gute daran: die Enttäuschung bleibt aus. Die Charaktere sehen größtenteils aus, wie im Buch beschrieben und keine bahnbrechenden Szenen wurden ausgelassen.
Während Themen wie Geschwisterliebe, Wut und Verantwortung in der Verfilmung eindrucksvoll vermittelt werden, kommt ein Thema des Buches etwas zu kurz. Tilda und Ida wachsen in Armut auf. Im Buch vergleicht sich Tilda viel mit ihrer besten Freundin Marlene – mit ihrem Status, ihrer Freiheit und der uneingeschränkten Selbstverständlichkeit, so zu leben, wie sie möchte. Das Privileg hat Tilda nicht. Nebenjob, Studium und Ida unter einen Hut zu bringen, ist schwer. Das Geld reicht oft nicht aus und die kleine Wohnung wirkt neben den Einfamilienhäusern erdrückend. Dennoch: Ein zweistündiger Film muss sich nun mal begrenzen. Das Thema wird trotzdem durch subtile Stilmittel wie das häufige Tragen derselben Kleidung und einer bescheidenen Wohnung sichtbar. Es wäre aber schön gewesen, nicht danach suchen zu müssen.
Der Film „22 Bahnen“ kann trotz kleiner Mängel als eine gelungene Buchverfilmung deklariert werden. Sie kann dem Original definitiv das Wasser reichen, auch wenn das Glas vielleicht nur zu zwei Dritteln gefüllt ist.
