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Politik

Redaktion:

Identitätspolitik – Was ist das? Warum wird sie kritisiert?

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Viele Debatten, Feuilleton-Beiträge und Streits rund um die Thematik Identitätspolitik kursieren im Internet und der Öffentlichkeit. Die drei Podiumsteilnehmer:innen tauschten sich bei der vom AStA organisierten Podiumsdiskussion über ihre Standpunkte in der Thematik aus. Eingeladen waren Leau Susemichel, Karsten Schubert und Michael Zander. Lea Susemichel ist Autorin, Journalistin und Feministin. Karsten Schubert ist geschäftsführender Assistent im Bereich der politischen Theorie, Philosophie und Ideengeschichte an der Universität Freiburg und Michael Zander ist Doktor der Psychologie und Inhaber der Vertretungsprofessur "System der Rehabilitation" im Fach Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Alle drei äußerten sich der linken Identitätspolitik durchaus wohlwollend gegenüber, benannten aber auch ihrer Meinung nach berechtigte Kritik an dieser.

Was ist überhaupt Identitätspolitik?

Identitätspolitik beschreibt eine Form des politischen Handelns, bei der die Bedürfnisse einer bestimmten Gruppe im Mittelpunkt stehen. Angestrebt wird eine höhere Anerkennung der Gruppe in der Gesellschaft und die Stärkung ihres Einflusses. Teil der Gruppe sind all diejenigen die ein bestimmtes Merkmal haben, zum Beispiel eine bestimmte Ethnizität, ein bestimmtes Geschlecht oder eine spezifische sexuelle Orientierung. Die Identitätspolitik geht davon aus, dass die bestimmte Gruppe gesellschaftlich schlechter gestellt ist und unterdrückt wird – Benachteiligung ist also ein zentrales Thema in der Identitätspolitik.

Was sind häufige Kritiken an Identitätspolitik und was sagen Expert:innen dazu?

Linke Identitätspolitik ist „Cancel Culture“

Die häufig von rechter bzw. konservativer Seite geäußerte Kritik lautet wie folgt: Identitätspolitik dominiert zunehmend die öffentlichen Debatten, lässt keine Gegenmeinungen mehr zu und ist durch eine übermäßige Sensibilität der Identitätspolitik-Betreibenden geprägt. Diese Argumentation ist besonders häufig in konservativen Feuilletonbeiträgen von älteren Herren und teilweise auch Damen zu finden. Gerne werden hierfür besonders radikale Beispiele und Forderungen einer Randgruppe heraus gegriffen, in dem Versuch, die Argumente der gesamten Gruppe zu delegitimieren. So sagt Welt-Redakteurin Susanne Gaschke beispielsweise ein neues „Ideologisches Zeitalter“ voraus, auf dem Argument begründet, dass die Begriffsbezeichnung „Hausdiverse“ für Hausfrauen und Hausmänner und die Forderung diese zu etablieren absolut irrsinnig sei.

Lea Susemichel bezeichnet diese Argumentationen als „Selbstviktimisierung des alten weißen Mannes“ und begründet dies folgendermaßen: Besonders privilegierte Individuen fühlen sich durch Formen der Identitätspolitik angegriffen. Das kommt daher, da sie von einem ungleichen System profitieren und sich eine Gleichberechtigung wie eine Abgabe der eigenen Privilegien anfühlen kann. Anstatt dies anzuerkennen, gehen diese Menschen häufig den scheinbar einfacheren Weg und stellen sich selbst in die Opferrolle der Identitätspolitik-betreibenden Personen. In diesem Zusammenhang fallen dann häufig Begriffe wie „Feminazi“ und „Cancel Culture“, um die scheinbar existente übermäßige Dominanz der eigentlich von Diskriminierung betroffenen Gruppe (im Fall der Bezeichnung „Feminazi“ also alle, die von Sexismus betroffen sind) zu untermauern.

Was ist Cancel Culture?

Cancel Culture bezeichnet systematische Bestrebungen zum sozialen Ausschluss von Personen oder Organisationen, denen diskriminierende oder beleidigende Aussagen/Handlungen vorgeworfen werden. Jemanden zu „canceln“ bedeutet dann, die Person aus der öffentlichen Debatte auszuschließen und die Person beispielsweise nicht mehr in Talkshows einzuladen oder ihr eine Reichweite zu geben, indem man ihr folgt.

Linke Identitätspolitik reduziert Menschen auf ein bestimmtes Merkmal

Die sogenannte Essentialisierung, also Reduzierung der jeweiligen Person bzw. Personen auf ein bestimmtes Merkmal, sieht Lea Susemichel als berechtigte Kritik an der Identitätspolitik an. Karsten Schubert sieht das weniger kritisch: Für ihn ist Identitätspolitik kein Essentialismus, sondern ein komplexer Konstruktionsprozess von Identität. Erst die Identitätspolitik würde es Menschen ermöglichen ihre Identität zu finden und für sich zu definieren. Der Essentialismus bedroht also nicht die Identitätspolitik, laut Karsten Schubert, sondern macht Identitätspolitik erst aus.

Linke Identitätspolitik ist zu positionalistisch

Positionalismus besagt, dass die Wahrnehmung der sozialen und politischen Realität ausschließlich von subjektiven Erlebnissen abhängt und sich nicht aus objektiven Kriterien ergibt. Auch dieser Kritik schließt sich Lea Susemichel an: Die jeweilige Wahrnehmung der sozialen und politischen Realität solle nicht ausschließlich vom eigenen Standpunkt abhängen und die Legitimität eines Arguments müsse weiterhin am Inhalt dieses bemessen werden. Kurz: Der Diskriminierungsgrad sollte nicht die einzige Expertise sein, die in einer Diskussion zählt. So wie Lea Susemichel ist auch Michael Zander der Meinung, dass die Wahrnehmung und auch die Argumentationsgrundlage einer Person, nicht ausschließlich vom eigenen Standpunkt abhängen sollte. Er sagt, dass Nicht-Betroffene nicht automatisch den weniger fundierten Standpunkt vertreten müssen, und dass ein Verständnis für die Thematik nicht aus der Betroffenheit allein entsteht. Ein Verständnis entsteht vor allem durch aktive politische Arbeit, die eben auch von Nicht-Betroffenen geleistet werden kann. Karsten Schubert stimmt den Argument auch teilweise zu und sagt, dass grundsätzlich auch von Nicht-Betroffenen alles „wissbar“ sei. Dennoch betont er die Wichtigkeit einer „Politik der Präsenz“, also eine Politik, die von den Betroffenen selbst betrieben wird, da diese einen anderen Zugang zur Thematik haben würden. Da ein Konsens von dem, was „wissbar“ und selbstverständlich ist, leider in der Gesellschaft noch nicht vorherrscht, sei diese Art der Politik von Nöten.

Was sind Universalismus und Partikularismus?

Eine universalistische Gesellschaft ist eine auf die Gesamtheit fokussierte Gesellschaft, in der alle Mitglieder Teil eines Ganzen sind und in dem das gleiche Regelwerk für alle Teilnehmenden gilt.

Partikularismus hingegen bezeichnet eine Welt mit Untergliederung in Teilsysteme/kleine Einheiten, die gegenüber dem großen Ganzen ihre eigenen Interessen durchsetzen und Rechte für sich beanspruchen.

Identitätspolitik spaltet die Gesellschaft

Auch die Kritik, Identitätspolitik spalte die Gesellschaft und die Solidarität, da sie sich gegen den Universalismus richten würde, wird besonders von konservativer Seite häufig geäußert. Dem widerspricht Karsten Schubert entschieden: Er sagt, die Identitätspolitik sei das Zentrum der Demokratie und greift für die Erklärung auf die radikale Demokratietheorie zurück. Der von rechter Seite so hoch angepriesene Universalismus sei exklusiv und würde nicht alle Gruppen tatsächlich mit einschließen, sondern manche eben nur „mitmeinen“. Ein tatsächlicher Universalismus kann, laut Karsten Schubert nur über multiple Partikularismen erreicht werden, und genau diese würde die Identitätspolitik stärken und voranbringen.

Auch wenn viele Kritikpunkte an linker Identitätspolitik in der Podiumsdiskussion mit Gegenargumenten versehen wurden, sind sich die Podiumsteilnehmer:innen am Ende trotzdem einig: Es gibt berechtigte Kritik, die nicht einfach mit persönlicher Betroffenheit von den Betreibenden der Identitätspolitik „wegargumentiert“ werden kann. Stattdessen ist ein Instrumentarium nötig, welches einem ermöglicht berechtigte Kritik zu formulieren. Schließlich gibt es Zweige der Identitätspolitik, die auch in die dogmatische Richtung abdriften. Um hier das tatsächliche Ziel der Identitätspolitik zu erreichen, nämlich das Aufmerksam machen auf Ungleichheit und Missstände, um längerfristig eine gerechtere Gesellschaft zu erschaffen, muss ein Austausch und ein gegenseitiges kritisieren, möglich gemacht werden.