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Politik

Redaktion:
Die Menschen in Polen sind wütend (Foto: Natalia Bieniek)

Das Erwachen der polnischen Jugend aus dem Politik-Koma

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Was war in Polen in der letzten Zeit los? Wieso sind die Menschen so wütend? Weswegen protestieren sie? Hier gibt’s die Antworten.

Es ist ein sonniger Herbsttag, als am 22. Oktober das polnische Verfassungsgericht durch die Lautsprecher das Urteil zum Abtreibungsgesetz verkündet. Nur eine Handvoll Demonstrant:innen und Medienvertreter:innen haben sich neben der Vertreter:innen der Pro-Life-Bewegung vor dem Gericht versammelt. Aus den Lautsprechern der Pro-Life Aktivist:innen hört man eine Kinderstimme, die detailliert schildert, wie ein medizinischer Eingriff bei der Abtreibung abläuft. Es ist grotesk. Um 15.40 Uhr heißt es schließlich: Das ohnehin strenge Abtreibungsgesetz ist verfassungswidrig. Frauen dürfen demnach nicht mehr abtreiben, wenn der Fötus schwere Missbildungen aufweist.

Kaja Godek, die Anführerin der polnischen Pro-Life-Bewegung, wird von ihren Anhänger:innen gefeiert und in die Luft geworfen. „In keinem Land der Welt ist sowas passiert. Heute ist Polen ein Beispiel für Europa und die Welt“, sagt Godek. Dass dieses Urteil in den nächsten Tagen Tausende Menschen über mehrere Monate auf die Straßen Polens führen wird, ahnt sie vermutlich noch nicht.

Tausende protestieren trotz Corona-Pandemie

Vor allem die jungen Menschen sind wütend. Es ist, als seien sie aus einem Politik-Koma erwacht. Ihnen wird klar: Es muss gehandelt werden. In Polen ist seit 2015 die rechtspopulistische Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) an der Macht und kämpft seitdem gegen die „Linke-Ideologie“. Was im Herbst 2020 in den polnischen Städten zu sehen ist, lässt den Atem stocken. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts kommt es fast täglich zu Protesten und Straßenblockaden. Ein roter Blitz, der fortan im ganzen Land an Häusern, Autos und in den Schaufenstern der Restaurants und Läden zu sehen ist, wird zum Symbol der Bewegung „Strajk Kobiet“ (Frauen Streik). In Polen liegt eine Revolution in der Luft. „Das ist Krieg“, heißt es auf den Bannern der Protestierenden.  

Manche mutmaßen die PiS hätte die Pandemie als Deckmantel für die Änderung des Gesetztes genutzt, um Proteste zu umgehen. Denn: Versammlungen sind aufgrund der Corona-Pandemie untersagt. Trotzdem versammeln sich Tausende Frauen aber auch Männer, die ihre Solidarität zeigen wollen. „Diese Versammlung ist illegal.“, dröhnt es immer wieder aus den Lautsprechern der Polizei. Schnell eskaliert die Lage: Es kommt zu Ausschreitungen mit den Polizist:innen, die bei Jugendlichen Tränengas anwenden. Minderjährige werden in Gewahrsam genommen und eine Seniorin von der Gruppe „Polskie Babcie“ (polnische Omas) wird verhaftet.

Doch die Demonstrierenden lassen sich nicht einschüchtern. „Man sieht, dass die Polizei hinter der Regierung steht und nicht hinter den Bürgern. Und sie sollte uns als Bürger dieses Landes beschützen. Wir haben mehr Angst vor der Polizei als vor dem Protest.“, sagt Magda, die trotz ihrer Sorge sich mit dem Corona-Virus anzustecken oder Opfer von Polizeigewalt zu werden, an den Protesten teilnimmt.

Homophobie in Polen

Das Urteil zu Abtreibungen mitten in der Corona-Pandemie brachte das Fass zum Überlaufen, ist aber nicht der einzige Grund, weshalb die Menschen seitdem fast täglich auf die Straße gehen. Für Homosexuelle in Polen wird die Lage zunehmend gefährlicher. LGBT-freie Zonen werden vor allem in Kleinstädten wie Krasnik errichtet. Auf Nachfrage zu diesen Zonen sagt ein Anwohner man müsse ja gegen „das Böse“ kämpfen. Auch der neue Bildungsminister Przemyslaw Czarnek hetzt gegen Homosexuelle in einem Vortrag: „diese Menschen“ dürften nicht dieselben Rechte genießen wie „normale Menschen“, sagt er.

Einige Schwule begehen Selbstmord, weil sie die ständige Schikane nicht aushalten, darunter auch Kinder und Jugendliche. Der zuletzt verstorbene 30-jährige Michal konnte trotz einer aufstrebenden internationalen Modellkarriere und psychiatrischer Hilfe, den Hass seiner Mitmenschen nicht länger ertragen. Die LGBTQ+-Coummunity zeigt auf den Protesten Präsenz und wird in ihrem Kampf für Gleichberichtigung von vielen unterstützt.

So heißt es, wenn man die Teilnehmer:innen nach der Gründen für die Proteste fragt: „Abtreibung und fehlende Gleichberechtigung der LGBT-Personen und dass uns der katholische Glaube auferlegt wird - das hat sich kumuliert.“ Eine weitere Protestierende fügt hinzu:

„Das ist kein Protest von Feministinnen. Das ist ein Protest des ganzen Landes gegen die Abschaffung von Grundsätzen einer Demokratie undelementaren Bürgerrechten.“

 

Sorge um freie Medien

Die Wut der Protestierenden richtet sich auch gegen den polnischen Fernsehsender TVP, vor dessen Hauptquartier sie sich mehrmals versammeln. Dem öffentlich-rechtlichen Sender werfen sie vor, als Propagandainstrument der PiS zu agieren, weshalb sie ihn als TVPis bezeichnen. In dem News-ticker Streifen bei dem Nachrichtensender TVPinfo stehen beispielsweise „Infos“ wie: „Der Linksextremismus zerstört Polen" und "eine Corona-Wolke schwebt über den Demonstranten". Objektive Berichterstattung sieht anders aus. 

Das Ganze ist deshalb problematisch, weil nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk kostenlos empfangen werden kann. Für viele Menschen, die in Dörfern leben und kein Internet haben oder es sich nicht leisten können, ist TVP neben den Printmedien die einzige Informationsquelle. 

Doch die Kontrolle über das öffentlich-rechtliche Fernsehen reicht der PiS nicht, sie geht einen Schritt weiter: Der polnische Ölkonzern „Orlen“, dessen Chef Daniel Objatek ein PiS-Verfechter ist, kauft von der deutschen Verlagsgruppe Passau den Verlag „Polska Press“, der 20 Regionalzeitungen publiziert. Der Chefredakteur der polnischen Tageszeitung NTO Krzysztof Zyzik fürchtet um die Freiheit der Medien und schreibt nach der Übernahme einen offenen Brief. „Das ist eine verhängnisvolle Praxis, die aus Ländern wie Russland und Ungarn bekannt ist. Die Befürchtung, dass PiS mit unserem Geld die privaten Medien übernimmt, um die Gesellschaft noch weiter zu indoktrinieren, ist offensichtlich.“, schreibt Zyzik.

Der Unabhängigkeitsmarsch ist ein Marsch, der von nationalistischen Vereinen organisiert wird. Er findet jede Jahr am polnischen Unabhängigkeitstag am 11. November in Warschau statt. Anlass ist die Wiedererlangung der Unabhängigkeit des Staates 1918 nach 123 Jahren der Teilung durch Preußen, Österreich-Ungarn
und Russland.

PiS-Chef reagiert und mobilisiert Nationalisten

Jaroslaw Kaczynski, der PiS-Vorsitzende, reagiert auf die Proteste. Er ruft im Fernsehen dazu auf, die Kirchen vor den Demonstrierenden zu beschützen. Am Abend zuvor sind einige der Protestteilnehmer:innen während der Gottesdienste mit Bannern in die Kirchen eingedrungen. Der Aufruf mobilisiert Nationalisten, die fortan die Eingänge der Kirchen bewaffnen. Die Lage spitzt sich zu als sie bei dem Unabhängigkeitsmarsch im November eine Wohnung anzünden, weil auf dem Balkon eine Regenbogenfahne hängt.

Polen - Eine gespaltene Nation

Das polnische Portal „OKO Press“ berichtet, Polen sei derzeit das Land, das auf eine Autokratie am schnellsten zusteuert und bezieht sich dabei auf den Democracy Report 2021. Die Protestierenden und die Opposition fordern einen Rücktritt der Regierung, doch die PiS denkt nicht dran. Sie verfolgt ihren Kurs stetig weiter. Die Wahlen in Polen finden erst im Jahr 2023 statt. Ob die PiS die nächste Legislaturperiode für sich entscheidet, ist unklar. Sie hat das Leben polnischer Familien, mit der Einführung von 500Plus, eine Art Kindergeld, erheblich verbessert. Zugutehalten muss man also der Partei, dass sie die vorher kaum vorhandenen Sozialhilfen ins Leben gerufen hat. Dadurch konnte sie viele Wähler:innen für sich gewinnen. Die Proteste dauern an und das stark katholisch geprägte Land ist gespalten, mehr denn je.