Kultur

Zwischen Zweifel und Vorurteil
In den 1950er Jahren, am heißesten Tag des Jahres, sitzen zwölf Geschworene in einem stickigen Jury-Raum und müssen über Leben und Tod eines jungen Mannes entscheiden. Sie tragen nicht nur über die Schuld des Angeklagten Streit aus, sondern auch über die Grenzen ihrer eigenen Überzeugungen. Der Film „Die zwölf Geschworenen“ richtet den Blick tief auf die Konflikte im Innersten einer Gruppe und fragt, was Gerechtigkeit eigentlich bedeutet.
„Die zwölf Geschworenen"
Produktionsjahr: 1957
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Reginald Rose
Besetzung: Henry Fonda, Jack Klugman, Jack Warden, Martin Balsam, John Fiedler, Lee J. Cobb, Ed Begley
Laufzeit: 96 Minuten
Originaltitel: Twelve Angry Man
FSK: 12
Auf UHD, Blu-ray und DVD erschienen bei capelight pictures
Sidney Lumets „Die zwölf Geschworenen“ ist ein intensives Gerichtsdrama, ein Kammerspiel über zwölf völlig verschiedene Männer, die über das Leben eines noch jungen Menschen entscheiden müssen. Während die meisten anderen Filme das Drama des Mordes selbst oder den Prozess im Gerichtsaal in den Mittelpunkt stellen, spielt sich die gesamte Handlung hinter verschlossenen Türen im Jury-Raum und am heißesten Tag des Jahres ab. Es mag schwer vorstellbar sein, wie ein Schwarz-Weiß-Film, der größtenteils in einem fast leeren Raum spielt, so dramatisch sein kann, doch die zwölf Geschworenen erreichen mit ihren Dialogen ein Maß an Spannung, das auch heutzutage kaum übertroffen werden kann. Ohne Spezialeffekte oder aufwändige Kulissen entfaltet der Film allein durch Worte eine beeindruckende Kraft. Im Fokus steht die Frage, ob der 18-jährige Angeklagte, der sein Leben lang Misshandlungen erfahren hat, seinen Vater nach einem Streit mit einem Messer ermordet hat. Die Beweislage scheint zunächst aussagekräftig: Eine Nachbarin berichtet, sie habe den Mord durch ein vorbeifahrendes Zugfenster gesehen, ein anderer Zeuge, ein alter Mann, der unter der Wohnung des Opfers wohnt, sagt aus, er habe die Auseinandersetzung gehört und den Jungen fliehen sehen. Das Hauptbeweismittel: ein einzigartiges Messer mit einem speziellen Griff. Der Angeklagte behauptet, zur Tatzeit im Kino gewesen zu sein und kam daher Stunden später zurück und entdeckte dann die Leiche.

Nun müssen die Geschworenen entscheiden: Wenn die Geschworenen einen begründeten Zweifel hegen, einen wirklich begründeten Zweifel, dann muss der Urteilsspruch nicht schuldig lauten. Schließlich muss nicht die Unschuld des Angeklagten bewiesen werden, sondern die Schuld. Das würde das Todesurteil bedeutet, ohne Chance auf ein Gnadengesuch. Elf der zwölf Geschworenen sind von Anfang an von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Doch einer, Geschworener Nummer acht, gespielt von Henry Fonda (bekannt aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „Mein Name ist Nobody“), hegt Zweifel. Er kann nicht mit Sicherheit sagen, ob der Angeklagte unschuldig ist. Seiner Ansicht nach hat der Angeklagte es aber verdient, gründlich diskutiert zu werden, da sie über sein Leben entscheiden müssen.
„Es ist schwierig persönliche Vorurteile in solcher Sache auszuschalten. Wo immer man auf sie stößt, verdunkeln Vorurteile die Wahrheit. Ich weiß selbst nicht, wo die Wahrheit liegt und es ist möglich, dass sie nie ein Mensch erfahren wird“
, so geschworener Nummer acht. Schritt für Schritt entlarvt der Geschworene Nummer acht schwache, zweifelhafte Beweise und regt die anderen an, ihre Vorurteile und Eigeninteressen zu hinterfragen. Jedoch werden auch menschliche Schwächen in der Beweislage deutlich. Die Geschworenen fordern die Baupläne des Gebäudes an, in dem der Mord geschehen sein soll. Dabei stellt sich heraus, dass es für den alten Mann unmöglich gewesen sein muss, nachdem er den Streit gehört hat, rechtzeitig bis zur Tür zu laufen, um den Angeklagten fliehen zu sehen. Geschworener Nummer neun ist ebenfalls ein sehr alter Mann und erkennt, dass es wahrscheinlich eher um die Aufmerksamkeit, geschuldet durch die Einsamkeit im Alter, ging.
Sowohl die Zeugen als auch die Geschworenen sind Persönlichkeiten mit Schwächen. Doch Geschworene fungieren als Repräsentant der Gesellschaft. Sie tragen damit eine große Verantwortung, denn sie entscheiden über Leben und Freiheit von Menschen. Allerdings schaffen es die Geschworenen nicht, Gefühle außen vorzulassen. Ein Geschworener wünscht sich eine schnelle Entscheidung, da er lieber ein Baseballspiel sehen möchte. Ständig versucht er die Diskussion zu beenden oder sich der Mehrheit anzuschließen. Ein anderer, Geschworener Nummer zehn, verurteilt den Angeklagten aus dem Armenviertel allein aufgrund seiner Herkunft. Obwohl die Namen der Geschworenen gar nicht genannt werden, lernt man dennoch ihre Persönlichkeiten bis ins kleinste Detail kennen. Zahlreiche persönliche und gesellschaftliche Vorurteile beeinflussen die Debatten und zeigen zugleich die Schwächen des Rechtssystems, das Menschen mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Vorannahmen über Leben und Tod entscheiden lässt. Anstatt über die Schuldfrage nachzudenken, vertreiben sich die Geschworenen mit Tic-Tac-Toe die Zeit und projizieren ihre eigenen Familienprobleme auf den Angeklagten. Das ist auch zu erkennen bei Geschworener Nummer drei. Dieser hat sich in der Vergangenheit mit seinem Sohn zerstritten und projiziert daraufhin seinen Groll auf den Angeklagten. Er sieht ihn als undankbaren Jungen, ähnlich wie er es gegenüber seinem eigenen Sohn empfindet.

Es stellt sich heraus, dass der Angeklagte einen Pflichtverteidiger hat, der anscheinend überhaupt nicht an die Unschuld des Jungen glaubt und etliche Zweifel übersieht. Schlussendlich wird allerdings auch deutlich, dass die Beweisaufnahme und die Entdeckung von Ungereimtheiten nicht das Werk von einer einzelnen Person sein kann. Es sind die unterschiedlichen Perspektiven der gesamten zwölf Geschworenen, die zu dem Ergebnis führen. Dabei wandelt sich die frustrierte Atmosphäre zu einer Haltung von Einsicht und Verantwortungsbewusstsein.
„Die zwölf Geschworenen“ ist ein zeitloses Meisterwerk. Es gelingt dem Film, trotz seines Alters von fast 70 Jahren, mit herausragendem Schauspiel und Dialog, bis heute zu überzeugen. Der Film erreicht eine Intensität, die selbst heutige Multi-Millionen-Dollar-Produktionen oft vermissen lassen. Die Botschaft des Films mahnt eindringlich dazu, persönliche Vorurteile zu überwinden und sich der eigenen Verantwortung bewusst zu werden, gerade wenn es um das Leben anderer Menschen geht.
Redigat: mf
