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Kultur

Redaktion:
Das Cover der deutschen Version von "Mit Staunen und Zittern" Darauf, der Titel und der Name der Autorin, Amelie Nothomb und ein Bild ein Frau vor einem dunkelblauen Hintergrund.
Das Cover der deutschen Version. (Foto: Maximilian Kisters)

Warum nicht einfach kündigen?

Ein Beitrag von Maximilian Kisters

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Was mache ich hier eigentlich? Glauben die echt, ich wäre so dumm? In Mit Staunen und Zittern verarbeitet die französische Autorin Amelie Nothomb ihre Erfahrungen in einem großen Konzern in Tokio.

Voller Elan startet die junge Amelie San ihren Jobbei einem großen Unternehmen in Tokio. Nur wenige Wochen später erleidet die ambitionierte Arbeiterin einen mentalen Zusammenbruch und tanzt nackt durch die leeren Büroräume der Firma. Mit dem autobiografisch geprägten Roman zeigt die Französin satirisch, wie es sich anfühlt im Corporate-Jungle gefangen zu sein. Aus heutiger Sicht erschrecken wir, wenn eine weiße Autorin so salopp über asiatische Kultur urteilt. Politisch korrekt wollte der Roman schon damals nicht sein, trotzdem wirft die Autorin nicht bloß mit Klischees und Stereotypen um sich, sondern reflektiert, wie sich der Spätkapitalismus in Japan anfühlt.

Amelie kommt aus Belgien und lebt in Japan, sie will sich der dortigen Unternehmenskultur anpassen und trifft dabei auf eine bedrohliche Hierarchie. Im Unternehmen Yumimoto hat ihre Chefin einen Chef, der einen Chef hat, der einen Chef hat, der einen Chef hat. Irgendwo endet die Kette aber echten Bezug hat Amelie zu den Strukturen selbst kaum. Sie kennt jedes Glied der Kette, Interaktion im Arbeitskontext ist ihr hingegen untersagt. Eine:r hat mehr Macht als der:die nächste. Und je näher Amelie ihnen kommt, desto unfreundlicher sind sie; desto mehr Macht üben sie auf Amelie aus. Die Arbeit wird zur Tortur und trotzdem kündigt die junge Frau nicht, sondern hält den Kopf unten und macht weiter. Amelie lebt die kapitalistische Ideologie. Die Geschichte zeigt (Vorsicht Spoiler) wie genau das motivierte, intelligente und fähige Individuum daran scheitert. Amelie werden stupide Aufgaben zugeteilt, an denen sie verzweifelt. Sie scheitert daran, diese Aufgaben auszuführen und wird noch mehr Strenge ausgesetzt.

Die Europäerin wird von den direkten Vorgesetzten als Individualistin geschmäht, als sie von den Firmenstrukturen nur ganz leicht abweicht. Das Resultat spielt keine Rolle mehr, sie hat eine Regel gebrochen, die sie nicht hätte brechen sollen. Disziplin steht an erster Stelle.

Ist das alles Klischee? Die Autorin hat selbst in einem Großkonzern gearbeitet und verarbeitet ihre Erfahrungen in dem Roman. In der Realität zeichnet sich die japanische Arbeitskultur auch durch Disziplin aus: 2017 führte die japanische Regierung dem Premium Friday ein. Am letzten Freitag des Monats sind Arbeitgeber:innen dazu angehalten ihre Mitarbeiter:innen um 15 Uhr gehen zu lassen. Das Angebot fand allerdings wenig Anschluss und nur 10 Prozent der Arbeitnehmer:innen gaben an, dass sie am ersten Tag dazu ermutigt wurden früher die Arbeit zu verlassen.
Die politische Wirksamkeit der Maßnahme, lässt sich natürlich in Frage stellen aber ein solches Ergebnis bleibt trotzdem ein Sinnbild der Einstellung zur Arbeit in Japan.

Die Strukturen, durch die Amelie fällt, wirken absurd aber real. Den Unterschied zwischen der Firma Yumimoto und dem Gericht in Kafkas Werk „der Prozess“ ist aber die Transparenz. Josef K., der Protagonist im Prozess weiß nicht, an wen er sich wenden soll, wer ihn verklagt, geschweige denn, wie ihm geschieht. Amelie ist sich über die Strukturen bewusst, sie kennt jedes Glied der Kette aber weiß genauso, dass sie aus den Strukturen nicht ausbrechen darf. Es ist verpönt, wenn sie Aufgaben übernimmt, die nicht für sie vorgesehen sind; sie soll nicht anders sein als vorgesehen. Egal ob es besser ist, oder nicht.

Ideologisch denkt der Roman allerdings nicht weit genug. Sollte Amelie kündigen? Wird sie in einem kleinen Unternehmen glücklicher? Zufrieden wird Amelie im Spätkapitalismus nicht, denn ihre Arbeit bleibt fremdbestimmt.