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Kultur

Man sieht zwei Bildschirme im Dunkeln, Links: Creepypasta.com, Rechts: Slenderman
Creepypasta.com & Slenderman (2018) (Foto: Nele Püls)

Slender Man & Creepypasta: Digitaler Folk-Horror im Netz

Ein Gastbeitrag von Nele Püls

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Spätnachts, wenn das Zimmer in Halbdunkel getaucht ist und das kalte Licht des Bildschirms Gesichter in gespenstische Töne taucht, genügt es, das geheimnisvolle Wort in den Suchverlauf zu tippen. Heutzutage begegnen einem Creepypastas überall: auf Reddit, spezialisierten Seiten wie creepypasta.com oder in YouTube-Channeln, wo sie eindringlich vorgelesen und schauderhaft bebildert werden. Auch in Horror-Podcasts, sowie kurzen TikTok- oder Instagram-Clips finden sie sich wieder.

Doch egal welches Format gewählt wird, sie alle haben den gleichen Effekt. Das Herz schlägt schneller, während einem die Nackenhaare zu Berge stehen. Wie konnte aus ein paar anonymen Textfetzen und Bildern eine globale Gruselkultur entstehen, die uns bis heute gleichermaßen ängstigt und fasziniert?

Vom Copy-Paste zum Kult: Wie Creepypasta das Internet eroberte

Bei Creepypasta handelt es sich um die Horrorvariante der sogenannten Copypasta: kurze Texte oder Sprüche, die Nutzer kopieren und überall im Netz einfügen, weshalb sie nach der Kopier- und Einfüge-Funktion copy/paste benannt wurden. Creepypastas entstanden 2007 in dem Internetforum 4chan und verbreiteten sich von da aus über eine Vielzahl an Online-Plattformen.

Das Genre umfasst daher eine Art digitaler Legenden in dessen Rahmen Nutzer:innen kurze Horrortexte erschaffen, verbreiten und gemeinsam erweitern, ganz nach dem Prinzip „by users for users“. Die Texte werden anonym verfasst und wirken bewusst wie echte Erlebnisse, um Unbehagen auszulösen.

Diese kurzen Horrorgeschichten können in Form von Texten, Videos, Memes und Bildern existieren, oder, wie in den erfolgreichsten Fällen, als eine Kombination aus all diesen Elementen. Diese oft viralen Inhalte werden durch andere Nutzer:innen über das Internet verbreitet und erweitert.

Der Mann ohne Gesicht: Slender Man und die Geburt einer Internet-Ikone

Slender Man, das wohl bekannteste Beispiel für Creepypasta, entstand 2009 im Zuge eines Photoshop-Wettbewerbs im Web Forum Something Awful. Als Victor Surge dem Aufruf nachkam, mithilfe einer Fotobearbeitungssoftware paranormale Bilder zu erstellen, hat er wohl kaum ahnen können, welche weitreichenden Folgen, das haben würde.

Auf zwei, zunächst unscheinbaren Fotos spielender Kinder erscheint im Hintergrund ein großer, schlanker, gesichtsloser Mann im schwarzen Anzug. Rasend schnell verbreiteten Nutzer:innen Geschichten über Slender Man, tauschten Bilder aus und stellten Theorien auf, wie sie sich die Entität vorstellen. Die Figur, die Kindern an Waldrändern auflauern soll, wurde zu einem viralen Phänomen, das durch seine hypermediale Erzählweise angefeuert wurde. So hat Slenderman zahllose Kunstwerke, selbstgedrehte Videos, Spiele und Geschichten im Internet inspiriert und kürzlich sogar den Hollywood-Film Slender Man (2018).

Doch Slender Man ist längst nicht mehr die einzige Figur, die zur Creepypasta Berühmtheit aufgestiegen ist. Die Geschichte um Jeff the Killer gilt für Kenner längst als Kult. In ihr wird ein Junge namens Jeff nach einem brutalen Angriff entstellt, verliert den Verstand und beginnt als psychopathischer Killer mit dem Satz „Go to sleep“ seine Opfer heimzusuchen. Auch das Bild des Smile Dog kursiert nach wie vor im Netz. Das verfluchte Bild eines dämonisch grinsenden Hundes verbreitet sich per E-Mail und verursacht bei den Betrachtern Albträume, Wahnsinn und den Drang, das Bild weiterzugeben, um dem Fluch zu entkommen.

Mythos und Mitwirkung: partizipative Geschichten und ihre Resonanz

Die Entwicklung und Verbreitung von Creepypastas kann daher, als eine Form des kollektiven Geschichtenerzählens betrachtet werden. Sie spiegeln dabei Ängste und Befürchtungen der heutigen Gesellschaft wider, da sie sich mit dem Monströsen oder Unbekannten befasst.

So ist es etwa kein Zufall, dass die Geschichte der „Backrooms“, in der es darum geht, möglicherweise für immer in einem Raum gefangen zu sein, seinen Höhepunkt in der COVID-19-Pandemie fand. Zu einer Zeit, als die Menschen (virtuelle) Ventile für ihre kollektive Angst in der andauernden Quarantäne suchten. Die Backrooms sind eine moderne Internet-Sage aus der Creepypasta-Szene, in der man angeblich durch eine Art Glitch aus der realen Welt in ein endloses Labyrinth aus eintönig gelb tapezierten Gängen, mit dem dumpfen Summen von Leuchtstofflampen und dem modrigen Geruch nassen Teppichs stürzt.

Die digitale Legende fand ihren Ursprung ebenso wie Slender Man in einem einzelnen, online geteilten Bild im Mai 2019. Auch hier ergänzten Internetnutzer:innen das Konzept der Backrooms mit ihren eigenen Ideen, wodurch diese nun um zahllose Level und gruselige Kreaturen erweitert wurden.

Aus Lagerfeuer wird Link: wie Folklore im Digitalen weitererzählt wird

Beim Kreieren dieser Geschichten greifen Nutzer:innen auf Inhalt, Stil und Darstellungselemente von Folklore und Legenden, also auf traditionelle Geschichten, zurück. Folklore bezeichnet das Sammeln von mündlichen Überlieferungen und Traditionen. Das Genre bringt daher die Tradition der mündlichen Volkskultur in das digitale Zeitalter und ist somit auch ein bedeutendes kulturelles Phänomen. Es bietet Einblicke in die Art und Weise, wie digitale Plattformen Erzählpraktiken und kulturelle Narrative im digitalen Zeitalter beeinflussen.

Genau wie bei mündlichen Legenden ermutigt die fragmentarische, unvollständige Form von Creepypastas das Publikum zur aktiven Beteiligung. Die Einbindung (angeblicher) persönlicher Erfahrungen und realer Schauplätze in die Gruselgeschichten führt dazu, dass sie einen Eindruck von Realität aufweisen. Auf diese Weise erforschen Creepypastas das paradoxe Mittelfeld, zwischen Skepsis und Glauben von Horrorgeschichten. Genau dieses Phänomen des Halb-Glaubens macht ihren Reiz aus.

Auf dem Subreddit r/nosleep gilt daher sogar die Regel: „everything is true, even if it’s not“. Nutzer:innen müssen demnach alle Posts als angebliche Wirklichkeitsberichte inszenieren und sie auch in den Kommentaren als solche behandeln, ganz im Sinne des gemeinschaftlichen Gruselns.

Mehr als ein Hype: Creepypasta bleibt bestehen

Obwohl das Genre seine Blütezeit zwischen 2009 und 2014 hatte, besteht es auch heute noch aus einer beachtlichen Community. Der r/nosleep befindet sich 2025 noch immer unter den Top 50 der beliebtesten Reddit-Boards, und auch auf TikTok erreichen Gruselgeschichten, wie die beliebten Backroom-Videos, Milliarden von Aufrufen.

Da sich Creepypasta im digitalen Zeitalter also nach wie vor weiterentwickelt und ausbreitet, bleibt es ein interessantes Phänomen zur Erforschung der Überschneidung von Technologie, Folklore und narrativer Kreativität.

Neugierig geworden?

Neugierig geworden?

Unter den folgenden Links können einige der Creepypasta Plattformen besucht und auch der Trailer des Slender Man Films aufgerufen werden:

Unter diesem Link findet sich das angeblich verfluchte Bild des Smile Dog. Wahrheit oder Fiktion? Skepsis oder Glauben?
Wer öffnet das Bild und wer geht doch lieber auf Nummer sicher?