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Kultur

Das Cover von Kafka "Der Verschollene" in dieser Ausgabe mit dem Titel "Amerika"
"Amerika" ist der Titel, den Max Brod gewählt hat, als er Kafkas Werke posthum veröffentlichte. (Foto: Eddie Wienströer)

Der Verschollene ist noch immer verschollen

Eine Rezension von Eddie Wienströer

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Der Verschollene (in anderen Versionen auch "Amerika") gehört zu den unbekannteren Werken von dem deutschen Schriftsteller Franz Kafka. Vielleicht auch, weil es für Kafka eher untypisch ist.

Was verleiht einem Schriftstück Zeitlosigkeit? Wie lässt sich die Macht, die dem geschriebenen Wort innewohnt, entfesseln und was vermag sie in uns zu evozieren? Geplagt von Gedanken der Entfremdung und Identitätsverlust in einer bis ins Unermessliche beschleunigten Welt, finden wir auch 98 Jahre nach seinem Ableben Zuflucht in den Welten Franz Kafkas. Schauen wir mit bloßem Auge auf seine Werke, entdecken wir mit unserer Sicht vieles nicht: Seine Sprache scheint kein Eigenleben zu führen, sondern bedient sich immer dem kürzesten Weg zu ihrem Inhalt; Handlungsfäden bewegen sich nicht weit ihrer grundlegenden Ideen und lesen sich oft als formlos oder löchrig. Die Schriften Kafkas weisen sich als ein Summenobjekt, das die Größe seiner Einzelteile übersteigt. In der Lückenhaftigkeit seines Schaffens erwirkt Kafka Gedanken in uns, welche uns mit simplen Methoden und glanzloser Sprache an die Grundfesten unserer selbst führen. Entfremdung, Selbstzerfall sowie der Drahtseilakt zwischen Schuld und Unschuld bleiben auch heute Grundbausteine der Alltäglichkeit und wer sich selbst und seine Rolle in unserer Zeit zu erkennen sucht, wird mit Kafkas Werk die ersten Schritte in diesem Denken tun. „Der Verschollene“ (in früheren Ausgaben „Amerika“) steht neben zahlreichen Erzählungen in einer Reihe mit „Der Process“ und „Das Schloss“, welche gemeinhin als Kafkas Hauptwerk gelten.

Arbeiten sich die Protagonisten in „Der Process“ und „Das Schloss“ über den Verlauf des Romans an den Strukturen von nur einer undurchschaubaren Macht und ihren Vertretern, hohen Beamten, oder Gerichtsschreibern ab, bietet „Der Verschollene“ vergleichsweise viele Schauplätze, welche jedoch allesamt die Handschrift Kafkas aufweisen. Paradigmatisch für das Verloren- und Ausgeliefertsein in einem unüberblickbaren Menschenapparat stehen die umherirrenden Kellner im Restaurant des Hotel Occidental sehr früh in der Geschichte. Passagen wie diese bilden das Können des Autors ab, das Unspektakuläre und Alltägliche zum Eckstein der Entfremdung zu machen. Denn in Kafkas Welten reicht es nicht aus, ein Restaurant aufzusuchen, um einer Speise habhaft zu werden – das Anliegen unseres Protagonisten und Helden, dem 17-jährigen Karl Roßmann. Sein Aufenthalt im Restaurant des Hotels übersteigert sich in seiner Normalität wieder und wieder: Kellner preschen zu schnell durch den Saal, als dass man sie zu fassen bekäme; Tische werden dort auf- und abgebaut, wo Roßmann gerade steht, ihn zum Hindernis machend; kein Mensch scheint Zeit oder Lust zu haben, den Neuling zu bedienen, kontinuierlich füllt sich der Saal und letztlich muss Roßmann sein vermeintlich simples Vorhaben, Essen zu beschaffen, für gescheitert erklären, als er der Gerichte eines fremden Tisches ansichtig wird: „es war ihm unbegreiflich, wie sich die Leute das verschafft hatten.“

Eine weitere Szene, die bleibenden Eindruck hinterließ, war die szenische Beschreibung dessen, was das Finale des Romans sein sollte: Was augenscheinlich bloß Karl Roßmanns Ankunft bei der Werbegruppe eines Theaters darstellte, ließ einen für Kafka unüblich klaren Raum für Interpretation: Die auf hohen Podesten lärmende Werbegruppe mit ihren Engels- und Teufelskostümen, deren Trompeten mir beim Lesen Lärm in den Ohren verursachten, zwangen sich mir als eine Lösung von seiner bisherigen Welt, einen Austritt aus dem Amerika, das Roßmann nun kannte, auf. Eine so klare Referenz ist jedoch unüblich.Wie immer steht ein Protagonist, mit dessen Argumenten man nachfühlend mitfiebern kann, einem Riesenapparat aus Menschen gegenüber, in dessen Innern kein Einblick möglich scheint. Stattdessen sieht er fingierte Menschen, welche nur in ihrem Räderwerk, den streng-logischen und den Widerspruch ohne Widersprüche findenden Vorwürfen, menschlich wirken. Ansonsten scheinen sie das bloße Ziel zu verfolgen, unserem Helden fremd zu wirken und ihn somit zum tragischen Zentrum der zu Welt machen, in die er gerade hineinfällt.

Jedenfalls hat mir Der Verschollene Spaß gemacht. Niemand erzählt Geschichten auf diese Weise wie Kafka, wo doch jedes Ereignis ein für jeden Menschen nichtssagendes und ephemeres Ereignis sein könnte, jedoch bei den Helden mit K zu einem Ereignis ausufert, das meinen Alltag an Alltäglichkeit schmerzvoll übertrifft, sodass es mir kaum möglich scheint, dass ein Abenteuer einen so ehrlichen Begriff von Abenteuern vorweisen kann.