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Kultur

Redaktion:
Independent Filme der ersten Hälfte der 2020er (Foto: Divine Film, LLC/Weltkino, MUBI, Piffl Medien, Kurt Ravenwood)

„Hidden Gems“– Filme der ersten Hälfte der 2020er

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So schnell vergeht ein halbes Jahrzehnt. Neben politischen, sozialen und kulturellen Events, hat auch die Filmwelt dazu beigetragen, dass die letzten 5 Jahre in einem Wimpernschlag vergingen. Dune, Oppenheimer, Barbie, Avatar 2 und viele weitere Filme haben die Kinosäle dominiert und sind inhärent mit dem Zeitgeist dieser Dekade verbunden. Für jeden tollen Kassenschlager gab es aber mindestens auch noch 3 wunderbare Independent-Filme. Auch wenn diese oft bei Award-Zeremonien viel Aufmerksamkeit kriegten, blieben sie dem breiten Kinopublikum meist verborgen. Mit diesem Artikel versuche ich ein paar kleineren Filmen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie so dringend verdient haben.

Sing Sing

Kunst als Rettungsboot. Kunst als Lebensader. Kunst als das Wichtigste auf der ganzen Welt. „Sing Sing“, erzählt die berührende wahre Geschichte von einer Gruppe an Gefängnisinsassen, die durch das Aufführen von Theaterstücken verzweifelt an ihrer Menschlichkeit festhalten. Zwischen harten Betonwänden und schimmerndem Stacheldraht erzählt der Film mit tiefster Empathie, eindrucksvollen Bildkompositionen und endloser Freude über tragische, entmenschlichende Umstände. Der resultierende Kontrast wirkt nicht nur wie ein kraftvoller Protest gegen das US-Justizsystem, sondern auch als Testament für das echte „Rehabilitation through the Arts“ (RTA) System, das es mittlerweile in acht New Yorker Gefängnisse geschafft hat. Es gibt wenige bessere Beweise für die Kraft der Kunst als das RTA. Nur 3 % der Teilnehmer des RTA kommen später wieder ins Gefängnis – eine deutliche Verbesserung zu den 60 % für Nicht-Teilnehmer. "Sing Sing" greift diese Erfolgsgeschichte auf und findet dadurch Wärme und Mitgefühl in den kalten Rissen eines Systems, das dazu entworfen worden ist, zu unterdrücken. „Sing Sing“ wird kaum ein Auge trocken lassen.

Aftersun

Wenige Regie-Debüts der letzten Jahre haben so beeindruckt wie Charlotte Wells „Aftersun“. Die unscheinbare Geschichte einer jungen Frau, die sich an einen Türkei-Urlaub mit ihrem Vater zurückerinnert, hat schnell ein kleines, aber begeistertes Publikum gefunden. Obwohl der Film nicht einmal 10 Millionen an den Kinokassen einspielen konnte, hat er bei denen, die ihn gesehen haben, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Es ist einfach zu sehen, warum der Film so universell positiv angenommen wurde – „Aftersun“ ist ein zutiefst einfühlsames und letztendlich emotional niederschmetterndes Werk. Auf der Oberfläche sieht man hier zwar nur einen ruhigen Türkei-Urlaub mit einer vor Freude übersprühenden kleinen Tochter und einem etwas überfordert wirkendem Vater, doch aufmerksame Zuschauer:innen werden schnell einen zweiten, etwas düsteren Boden erkennen. Zwischen stroboskopischen Nacht-Club Lichtern und anfangs unscheinbaren Aussagen manifestiert der Film auf poetischste Weise einen emotionalen Wirbelsturm. „Aftersun“ fordert sicherlich ein bisschen Geduld von seinem Publikum ab, doch dafür werden aufmerksame Zuschauer:innen mit einem Ende für die Film-Geschichtsbücher belohnt.

La Chimera

Ob als Prinz Charles in der Hit-Netflix Serie „The Crown“, als scheiternder Tennisspieler in „Challengers“ oder sogar als möglicher nächster James Bond: Josh O’Connor ist aktuell in aller Munde. Dennoch ist die wohl beste Darstellung seiner schauspielerischen Fähigkeiten bei den meisten völlig unter dem Radar geblieben. In „La Chimera“ spielt O’Connor einen britischen Grabräuber in der ländlichen Toskana namens Arthur, der nach einem Aufenthalt im Gefängnis wieder mit seiner Räuber-Bande zusammenkommt und dabei den Tod seiner Geliebten bewältigen muss. Die Synopse hört sich etwas wild an und genau das ist der Film auch. „La Chimera“ ist verdammt exzentrisch, verdammt italienisch, aber auch einfach verdammt gut. Arthur findet Gräber mithilfe eines (scheinbar magischen) wegweisenden Stocks, die Räuber-Bande ist gespickt mit extravaganten Figuren und die vierte Wand wird gebrochen, um dem Publikum direkt etwas über italienische Männer zu erzählen. Nichts kommt in „La Chimera“, wie man es aus anderen Filmen erwarten würde. Das eine Bindeglied, was hier (fast) alles zusammenhält, ist die kompromisslose Lebensbejahung. Die verrückte Diebesbande tanzt, raubt und singt sich von einem Grab zum nächsten. Der eine Aspekt, der aus der Lebensbejahung herausfällt, ist Arthur. Seine Melancholie und Abhängigkeit von der romantisierten Vergangenheit resultieren in einer oft nahezu surrealen Stimmung. Regisseurin Alice Rohrwachers Meisterstück war es nun, aus jenen surrealen Einzelteilen ein zutiefst menschliches und verletzliches Gesamtwerk zu schaffen.

Hundreds of Beavers

Einer der Vorteile, die Social Media der modernen Filmwelt bietet, ist, dass Mund-zu-Mund-Propaganda selbst den absurdesten Filmen die Möglichkeit gibt, ein Publikum zu finden. Das wohl beste Beispiel dafür ist die völlig abgedrehte Komödie „Hundreds of Beavers“. Premiere feierte der Film auf dem Fantastic Fest 2022 und sprang daraufhin zwischen vielen verschiedenen Filmfestivals herum. Distribution-Deals mit großen Firmen wurden konsequent abgelehnt und die Filmemacher brachten den Film selbst von einem Indie-Kino zum nächsten. So baute der Film langsam, aber sicher, vor allem durch Online-Diskussionen einen kleinen Kult um sich auf – und das völlig zu Recht. „Hundreds of Beavers“ ist ein wahrlich einzigartiger Film. Der Fiebertraum um einen hungernden Apfelwein-Brenner, der sich mit einer Horde Bibern anlegt, ist wie eine Live-Action Looney Tunes Verfilmung, die mit jedem ausgeschalteten Bieber progressiv verrückter wird. Das wohl offensichtlichste Diskussionsthema hier ist natürlich der unverwechselbare Stil des Filmes, immerhin werden die Biber von Menschen in nicht gerade realitätsgetreuen Kostümen verkörpert (siehe Bild), aber man darf sich dennoch nicht von dem unfassbar effizienten Drehbuch ablenken lassen. Jeder noch so unscheinbare Gag zahlt sich aus, keine Sekunde wird je verschwendet. „Hundreds of Beavers“ ist ohne Frage einer der originellsten, aber auch witzigsten Filme dieses Jahrzehnts.

I’m Thinking of Ending Things

Würde man mich nach meiner Meinung zu den anderen Filmen fragen, würde ich wahrscheinlich antworten, dass all diese Filme „ein Traum“ sind. Interessanterweise trifft für diesen Film genau das Gegenteil zu. „I’m Thinking of Ending Things“ ist ein absoluter Albtraum – und das ist das größte Kompliment, was man dem Film geben kann. Drehbuch-Autor und Regisseur Charlie Kaufman hat sich schon seit Jahrzehnten mit exzentrischen Ideen, klaustrophoben Welten und komplexen Ideen einen Namen gemacht. Ob es die bittersüße Romanze „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ oder sein aberwitziges Erstlingswerk „Being John Malkovich“ ist. Nun scheint Kaufman die heiteren Töne, die durch seine frühe Karriere strahlten, völlig hinter sich gelassen zu haben. Der existenzielle Horror, der durch etliche Abstraktionen und Metaphern hier kommuniziert wird, wirkt, als hätte jemand einem eine schwere Hantel auf die Brust gelegt. Die visuelle Palette des Films scheint oft von allen hellen, aufmunternden Tönen verlassen worden zu sein und in den perfekt bedrückenden Schauspielleistungen findet man Gesichtsausdrücke, die an lebendig gewordene Francis-Bacon-Gemälde erinnern. „I’m Thinking of Ending Things“ ist wirklich kein einfacher Film. Das beweisen allein schon die sehr negativen Google-Nutzerbewertungen des Films. Doch wenn man sich auf die existenzielle Klaustrophobie einlässt, bekommt man eine Erfahrung, die einen lange nicht mehr loslässt.

Redigat: mf